Samstag, 24. Januar 2009
 
Israel-Palästina: Krokodilstränen PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Uri Avnery   
Dienstag, 19. Juni 2007

Der bekannte israelische Friedensaktivist Uri Avnery nimmt zum innerpalästinensischen Konflikt Stellung.

Was geschieht, wenn anderthalb Millionen Menschen auf einem winzigen, unfruchtbaren Streifen Land eingesperrt sind, abgeschnitten von ihren Landsleuten und jedem Kontakt zur Außenwelt, Opfer einer wirtschaftlichen Blockade und nicht mehr in der Lage, ihre Familien zu ernähren?

Die Bevölkerung des Gazastreifens diente als Versuchskaninchen. für ein soziologisches Experiment Israels, der USA und der EU. In dieser Woche zeigte das Experiment Ergebnisse. Sie beweisen, dass menschliche Wesen genau wie andere Lebewesen reagieren: wenn zu viele von ihnen in einem kleinen Gebiet unter miserablen Bedingungen zusammengepfercht sind, werden sie aggressiv und sogar mörderisch. Die Organisatoren des Experimentes in Jerusalem, Washington, Berlin, Oslo, Toronto und anderen Hauptstädten konnten nun befriedigt ihre Hände reiben. Die Opfer des Experimentes reagierten, wie vorauszusehen war. Viele von ihnen starben sogar.

Aber das Experiment ist noch nicht zu Ende. Die Forscher wollen genau wissen, was geschieht, wenn die Blockade noch strenger durchgeführt wird.

Was hat die gegenwärtige Explosion im Gazastreifen verursacht?

Der Zeitpunkt, an dem Hamas die Entscheidung traf, den Gazastreifen mit Gewalt zu übernehmen, war nicht zufällig. Die Hamas hatte zuvor gute Gründe, dies zu vermeiden. Die Organisation ist nicht in der Lage, die Bevölkerung zu ernähren. Sie hat kein Interesse daran, das ägyptische Regime zu provozieren, das gerade dabei ist, die Muslimbrüder, die Mutterorganisation von Hamas, zu bekämpfen. Die Organisation hat auch kein Interesse daran, Israel einen Vorwand zu liefern, die Blockade noch enger zu gestalten.

Doch die Hamasführer entschieden, dass sie keine Alternative hätten, als diejenigen bewaffneten Organisationen zu zerstören, die mit der Fatah liiert sind und Präsident Mahmoud Abbas unterstehen. Die USA hatte Israel empfohlen, diese Organisationen mit einer großen Anzahl von Waffen auszurüsten, damit sie gegen die Hamas kämpfen könnten. Die israelische Armee war von dieser Idee wenig begeistert und fürchtete, dass die Waffen schließlich in die Hände der Hamas fallen könnten (wie es ja tatsächlich auch geschieht). Aber unsere Regierung gehorchte wie immer - den amerikanischen Befehlen.

Das amerikanische Ziel ist eindeutig. Präsident Bush hat für jedes islamische Land einen lokalen Führer ausgesucht, der unter amerikanischem Schutz herrschen und amerikanischen Befehlen folgen soll: im Irak, im Libanon und nun auch in Palästina.

Hamas ist davon überzeugt, dass der für diesen Job auserwählte Mann im Gazastreifen Mohammed Dahlan ist. Seit Jahren sah es bereits danach aus, als werde er genau für diese Position vorbereitet. Die amerikanischen und israelischen Medien sangen ein Loblied auf ihn und beschrieben ihn als starken, entschiedenen Führer, “moderat” (d.h. den amerikanischen Befehlen gehorchend) und “pragmatisch” (d.h. den israelischen Befehlen gehorchend). Und je mehr die Amerikaner und Israelis Dahlan lobten, umso mehr untergruben sie seinen Ruf unter den Palästinensern. Besonders als Dahlan sich in Kairo aufhielt, als ob er auf die für seine Männer versprochenen Waffen wartete.

In den Augen der Hamas ist der Angriff auf die Stellungen der Fatah im Gazastreifen ein Präventivkrieg. Die Organisationen von Abbas und Dahlan schmolzen wie Schnee in der palästinensischen Sonne dahin. Die Hamas hat problemlos den ganzen Gazastreifen übernehmen können.

Wie konnten sich die amerikanischen und israelischen Generäle derartig verkalkulieren? Sie sind nur in der Lage, in streng militärischen Begriffen zu denken: so und so viele Soldaten, so und so viele Maschinengewehre. Aber bei internen Kämpfen sind quantitative Berechnungen zweitrangig. Die Moral der Kämpfer und die allgemeine Stimmung sind weit wichtiger. Die Mitglieder der Fatah wissen nicht, wofür sie kämpfen. Die Bevölkerung von Gaza unterstützt Hamas, weil sie glaubt, sie kämpfe gegen die israelischen Besatzer. Ihre Gegner werden als Kollaborateure der Besatzung angesehen. Das amerikanische Statement über ihre Absicht, sie mit israelischen Waffen auszurüsten, hat sie endgültig verurteilt.

Das hat nichts mit islamischem Fundamentalismus zu tun. Diesbezüglich sind alle Nationen gleich: sie hassen Leute, von denen sie annehmen, dass sie mit dem fremden Besatzer kollaborieren ob sie nun Norweger (Quisling), Franzosen (Petain) oder Palästinenser sind.

In Washington und Jerusalem beklagen die Politiker die “Schwäche von Mahmoud Abbas”.

Nun sehen sie, dass die einzige Person, die eine Anarchie im Gazastreifen und auf der Westbank hätte verhindern können, Yasser Arafat gewesen wäre. Er hatte natürliche Autorität. Die Massen verehrten ihn. Selbst seine Gegner wie die Hamas respektierten ihn. Er baute mehrere Sicherheitsapparate auf, die mit einander konkurrierten, um einen einzigen Apparat zu verhindern, der einen Staatsstreich hätte ausführen können, wie es jetzt im Gazastreifen geschehen ist. Arafat war in der Lage, zu verhandeln, ein Friedensabkommen zu unterzeichnen und sein Volk dahin zu bringen, dieses zu akzeptieren.

Aber Arafat wurde von Israel als Monster angeprangert, in die Mukatah eingesperrt und am Ende umgebracht. Die Palästinenser wählten Mahmoud Abbas zu seinem Nachfolger, da sie hofften, er würde von den Amerikanern und Israelis das erhalten, was sie Arafat zu geben sich weigerten.

Wenn die Führer in Washington und Jerusalem tatsächlich an Frieden interessiert gewesen wären, hätten sie sich beeilt, mit Abbas ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Er hatte erklärt, er wäre bereit, dieselben weit reichenden Kompromisse zu machen wie Arafat. Die Amerikaner und Israelis überhäuften ihn mit allem erdenklichen Lob, wiesen ihn aber in jeder konkreten Sache schroff zurück.

Sie machten Abbas nicht die geringsten Zugeständnisse. Ariel Sharon rupfte ihm die Federn aus und verkündete dann, Abbas sei “ein gerupftes Huhn”. Nachdem die Palästinenser geduldig, aber vergeblich darauf gewartet hatten, Bush werde sich bewegen, stimmten sie für die Hamas, um mit verzweifelter Hoffnung durch Gewalt das zu erlangen, was Abbas nicht auf diplomatischem Wege erreichte.

Die israelischen Führer, die militärischen wie auch die politischen, waren überglücklich. Sie waren daran interessiert, Abbas’ Autorität zu schwächen, weil er Bushs Vertrauen hatte. Sie taten alles, um die Fatah zu zerstören. Um sicher zu gehen, verhafteten sie Marwan Barghouti, die einzige Person, die dazu in der Lage gewesen wäre, die Fatah zusammenzuhalten.

Der Sieg der Hamas passte vollkommen zu ihren Zielen. Mit der Hamas muss man nicht reden, auch nicht den Rückzug aus den besetzten Gebieten anbieten oder gar über die Auflösung der Siedlungen verhandeln. Die Hamas ist das Monster unserer Zeit, eine “Terroristenorganisation” und mit Terroristen verhandelt man nicht.

Warum also waren die Leute in Jerusalem in dieser Woche nicht zufrieden? Und warum entschieden sie sich, sich “nicht einzumischen”?

Zwar zeigten sich die Medien und die Politiker, die seit Jahren mitgeholfen hatten, die palästinensischen Organisationen gegen einander zu hetzen, befriedigt und rühmten sich mit “wir haben es euch doch gesagt!”. Schaut, wie die Araber sich nun gegenseitig umbringen. Ehud Barak hatte Recht, als er vor Jahren sagte, unser Land sei wie “eine Villa mitten im Dschungel”

Aber hinter den Kulissen konnte man Stimmen der Beunruhigung und Angst vernehmen.

Die Verwandlung des Gazastreifens in ein Hamastan hat eine Situation geschaffen, auf die unsere Führer nicht vorbereitet waren. Was muss jetzt getan werden? Den Gazastreifen völlig abschneiden und die Menschen dort verhungern lassen? Mit der Hamas Kontakt aufnehmen? Den Gazastreifen noch einmal besetzen - nun, wo es zu einer großen Panzerfalle geworden ist? Die UN zu bitten, dort eine internationale Truppe zu stationieren und wenn ja, welches Land wäre so wahnsinnig, seine Soldaten in diese Hölle zu senden?

Unsere Regierung hat jahrelang daran gearbeitet, die Fatah zu zerstören, um über kein Abkommen verhandeln zu müssen, das zum Rückzug aus den besetzten Gebieten und zur Auflösung der Siedlungen dort führen würde. Jetzt, wo genau dieses Ziel scheinbar erreicht worden ist, haben sie keine Idee, wie man sich gegenüber dem Hamassieg verhalten soll.

Sie beruhigen sich mit dem Gedanken, dass dies in der Westbank nicht geschehen würde. Dort herrscht die Fatah. Dort hat die Hamas keinen Rückhalt. Dort hat unsere Armee schon die meisten politischen Hamasführer verhaftet. Dort ist Abbas noch an der Macht.

So reden Generäle mit der Logik der Generäle. Aber auch in der Westbank hat die Hamas bei den letzten Wahlen die Mehrheit der Stimmen erhalten. Auch dort ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Bevölkerung ihre Geduld verliert. Sie sieht die Expansion der Siedlungen, die Mauer, erlebt die Überfälle unserer Armee, die gezielten Tötungen, die täglichen Verhaftungen. Sie wird explodieren.

Die auf einander folgenden israelischen Regierungen haben die Fatah systematisch zerstört, ständig Abbas’ Autorität beschnitten und für die Hamas den Weg gepflastert. Nun vergießen sie Krokodilstränen.

Was sollte nun getan werden? Soll Abbas boykottiert werden oder soll man ihn mit Waffen ausrüsten, um ihn in die Lage zu versetzen für uns gegen die Hamas zu kämpfen? Soll man ihn auch weiterhin daran hindern, irgendein politisches Ziel zu erreichen oder ihm wenigstens ein paar Brosamen hinwerfen? Und wenn ja ist es nicht viel zu spät?

(Und an der syrischen Front: weiter Lippenbekenntnisse abgeben und alle Bemühungen Bashar Assads, mit Verhandlungen zu beginnen, sabotieren? Im Geheimen verhandeln, trotz amerikanischer Einwände? Oder weiterhin einfach gar nichts tun?)

Im Augenblick gibt es keine Politik und keine Regierung, die politische Entscheidungen trifft.

Wer wird uns also retten? Ehud Barak?

Baraks Sieg bei den Vorwahlen der Laborpartei hat ihn fast automatisch zum nächsten Verteidigungsminister gemacht. Seine starke Persönlichkeit und seine Erfahrung als Generalsstabschef und Ministerpräsident sichert ihm eine beherrschende Position in der neu aufgestellten Regierung. Olmert wird sich mit Angelegenheiten befassen, in denen er unübertrefflich ist in Parteiintrigen. Aber Barak wird einen entscheidenden Einfluss auf die Politik haben.

In den Regierungen der beiden Ehuds wird Ehud Barak über Krieg und Frieden entscheiden.

Bis jetzt hatten praktisch all seine Entscheidungen negative Ergebnisse. Er hatte mit Assad dem Älteren schon fast ein Abkommen erreicht und im letzten Augenblick wieder aufgegeben. Er hat die israelische Armee aus dem Südlibanon herausgezogen, ohne mit der Hisbollah zu reden, die dann den Südlibanon übernahm. Er zwang Arafat nach Camp David zu kommen, beleidigte ihn dort in schlimmster Manier und erklärte schließlich, wir hätten keinen Partner für den Frieden. Dies bedeutete den Todesschlag für jegliche Friedensaussichten, ein Schlag, von dem die israelische Gesellschaft noch immer wie gelähmt ist. Er rühmte sich, seine wirkliche Absicht sei die gewesen, Arafat zu entlarven. Er war eher ein gescheiterter Napoleon als ein israelischer de Gaulle.

(16.6.07; Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert/gek.)

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